Die Zukunft? - Verrückter als gewollt.







Die Schulstube ist eine Einrichtung, die sich im 18. und 19. Jh. in Europa etablierte. Seit der Einführung der allgemeinen Schulpflicht (in der Schweiz 1874) hat sie die Jugenderfahrung von Generationen geprägt und viele assoziieren mit dem Begriff "Lernen" spontan die Erlebnisse im Klassenzimmer. Im Laufe der Jahre sind immer wieder räumliche Konzepte aufgetaucht, die das Lernen im Schulzimmer erweitern sollten, vom Sprachlabor, über die Mediothek bis zum Lernfoyer oder Working-Space. An der Zentralität der Schulstube hat das indes keinen Abbruch getan, denn das räumliche Konzept der Schulklasse liess sich gut mit den planerisch-organisatorischen Belangen des Bildungssystems verbinden und mit der Idee von Jahrgangsklassen, auf die der Lehrplan und der Ablauf des Unterrichts sich auszurichten haben. Die Schulstube hat einen derart zentralen Status erlangt, dass selbst die Berufsbildung in ihren schulischen Teilen, die höhere Bildung und die Weiterbildung im Wesentlichen daran festgehalten haben.

Auch E-Learning, Online-Learning und - wie es vermehrt heisst - Digital Learning haben in den letzten Jahren sich nicht wirklich alternativ zur Schulstube positioniert. Im Gegenteil waren die in der Praxis erfolgsversprechendsten Ansätze häufig solche, die eine Verbindung von digital unterstütztem Lernen und Schul-, Kurs- oder Seminarraum vorsahen, z.B: Flipped Classroom oder Blended Learning.

Die Corona-Krise hat aber - wohl zum ersten Mal in der Geschichte des modernen Bildungssystems - auf breiter Front gezeigt, dass es - in einer rein didaktischen Betrachtung - durchaus auch ohne Präsenzunterricht und Schulstube geht. Zwar nicht ohne Schwierigkeiten und sicherlich nicht so, dass der gewohnte Unterricht einfach in den digitalen Raum hätte übersetzt werden können. Aber genau das hat eine breite Reflexion darüber ausgelöst, wie in Zukunft das Verhältnis zwischen den digitalen Lernformaten und dem konventionellen Unterricht aussehen könnte.

Es ist eine spannende Diskussion, die es sich lohnt möglichst offen und vorbehaltslos zu führen. Aber gerade dies wird nicht einfach sein, denn sie wird die Politik bemühen, dann die mächtigen IT-Konzerne, die ihre Vision des digitalen Lernens und ihre Produkte positionieren, die Wirtschaft mit ihren Produktivitätsanliegen und das Bildungssystem selbst, das seine Funktion als akkreditierende Instanz, wenn es um Ausbildungswege, Qualifikationen und Karrieren geht, behaupten muss. Und in der Breite wird auch die Bevölkerung partizipieren, denn Entscheidungen, die im Bildungswesen getroffen werden, haben fast umgehend einen Niederschlag in der Organisation des familiären und beruflichen Alltags vieler Menschen.

Eine Frage wird vermutlich nicht im Zentrum der öffentlichen Debatte stehen, nämlich jene nach dem Lernen selbst. Wie geht Lernen? Was ist Lernen, wenn man es jenseits gängiger Schulpraxis verstehen möchte? Inwiefern und mit welchen Mitteln kann es im digitalen Zeitalter praktiziert werden? Zugegeben: Diese Frage hat vermutlich keine eindeutige und abschliessende Antworten. Sie wird deshalb auch gerne der Akademie überlassen und dort den Fachpersonen aus Psychologie, Pädagogik, Neurowissenschaften. Wichtig ist aber, dass auch die Praxis ihre Stimme erhebt. Lehrpersonen haben die Chance eine Entwicklung mitzugestalten, die sich als eine digitale Wende in der Ausgestaltung des Bildungssystems erweisen könnte. Es gilt Leitideen zu hinterfragen, sowohl hergebrachte, die bisher die Lernformen und das Lehrverhalten informiert haben, wie auch neue, die auf eine Digitalisierung des Schulbetriebs abzielen.

Es gibt unterschiedliche Konzepte, die für eine solche Reflexion in Frage kommen. Unabhängig des gewählten Denk-Ansatzes scheinen mir Fragen wie die folgenden entscheidend: Inwiefern können digitale Mittel Lernprozesse verbessern? Worin besteht ihr Mehrwert? Wie lassen sich Lernprozesse ausgestalten, die das Erfahrungsspektrum der Schulstube um neue Dimensionen erweitern? Und wie sollen die Kommunikationen in digitalisierten Lernssystemen ablaufen? Weiterhin in Kaskaden, die in einem Top-Down-System vom Lehrplan zur Lehrperson und zu den Lernenden verlaufen? Oder dezentralisiert, indem die Lernenden selbst ihre Ziele und Strategien in die Hand nehmen? Im Netz bin ich auf ein Framework gestossen, das im Kern die Bloom'sche Taxonomie abbildet, diese aber um Aspekte digitaler Medien erweitert. Dabei wird auf die "Agency", auf das selbständige Handeln der Lernenden, grossen Wert gelegt. Ein interessanter Ansatz, um die eigenen Überlegungen anzustossen: McLeod, Graber: Harnessing Technology for Deeper Learning.  

Die Schulstube ist seit ein paar Hundert Jahren unter uns. Wenn wir darüber nachdenken, stellt sie eine Merkwürdigkeit dar. Irgendwann sind wir als Zivilisation zum Schluss gekommen, dass Lernen etwas ist, das nicht unmittelbar mit dem Leben zu tun hat. Wir haben das Lernen vom alltäglichen Handeln abgesondert und in separate Räume eingeschlossen. Offenbar waren wir zum Schluss gekommen, dass bestimmte Kulturtechniken und Denkfertigkeiten nur in abstracto erworben werden können. Und implizit, dass Lernen mit dem Erwerb dieser Techniken gleichbedeutend ist. Noch wahrscheinlicher haben soziale Anforderungen und hergebrachte Bildungsvorstellungen und Wissenskanons uns zu diesem Schritt veranlasst. Seither verfolgen wir in unseren Bildungsveranstaltungen das theorieumwobene Ziel eines Transfers von schulisch Erlerntem in die Praxis. Inwiefern dieser im Einzelfall gelingt, scheint gar nicht so trivial festzustellen.

Die neuen Technologien haben das Potenzial, den hergebrachten Rahmen zu sprengen. Eine dezentralisierte Kommunikation birgt die Möglichkeit, das Lernen aus den Schulräumen zu entlassen und in unsere Lebenskontexte zurückzuführen: Familie, Arbeitsplatz, öffentlicher Lebensraum, usw. In welchem Mass dies geschehen wird, ist noch nicht abzusehen. Denkbar sind auch Orwell'sche Szenarien, in denen wir unsere sinnlich-weltlichen (Lern-)Erfahrungen gleichsam zu digitalen Daten-Strömen sublimieren, die in allgegenwärtigen Daten-Systemen verarbeitet und ausgewertet werden. Das könnte dann so etwas wie eine Re-Zentralisierung und Formalisierung des destrukturierten und informalen Lernens im Alltag bedeuten.

Ich wette indessen darauf, dass die Schulstube die Corona-Krise überstehen wird. Wahrscheinlich ist aber auch, dass das Virus noch lange unter uns bleibt und die "Hybridisierung" des Schulalltags vorantreiben wird. Wir werden in den nächsten Monaten sehen, wohin uns das führt: "The future has always been crazier than we thought", sagt Nicolas Taleb. Es könnte dicker kommen, als wir denken.


























          

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