Kein Lernen ohne Risiko



Lebenslanges Lernen ist nicht ein leeres Postulat, sondern eine Anforderung, die uns alle jederzeit einholen kann. Das zeigt die Umstellung, die dieser Tage unter dem Zwang der Corona-Virus-Restriktionen an vielen Schulen erfolgt ist. Gleichsam über Nacht wurde Fernunterricht möglich, eine Option, die bis vor kurzem völlig unwahrscheinlich erschien. Es ist eklatant, wie aus einer extremen Erfahrung heraus – die Pandemie – in sehr kurzer Zeit Undenkbares möglich wurde, auch auf kollektiver Ebene.

In einer komplexen, wissensdurchdrungenen Welt sind wir alle zum Lernen angehalten, Kinder wie Erwachsene, öffentliche Organisationen nicht weniger als Unternehmen. Wissen ist dabei der Rohstoff, der die Lernprozesse nährt, zugleich auch das Ergebnis derselben. Lernprozesse scheinen Verfahren zu sein, die auf planbare Weise unser Wissen und unser kognitives Vermögen vermehren. Ausser Acht bleibt zuweilen, dass selbst die Explorationen der Hirnforschung diesen Schatz noch nirgends geborgen haben. Es ist nicht so klar, was Wissen ist. Ist es etwas, was man besitzen kann, sozusagen abgespeichert in den Windungen unseres Hirns? 

Was sich in unserem Hirn beobachten lässt, ist die Tätigkeit unzähliger Neuronen, die sich zu einem Netzwerk mit einer wechselhaften Gestalt verdrahten. Das Gehirn verändert sich im Gleichschritt mit den Einflüssen seiner Umwelt. Es verarbeitet Sinneseindrücke und Erlebtes. Was es auf komplexe elektrochemische Weise abspeichert, sind weder Bilder noch Schriftzeichen, sondern Emotionen und Empfindungen. Im Fortlauf der Evolution haben wir gelernt diese Sinnesempfindungen zu ordnen, in abstrakte Muster zu codieren und als Zeichen zu veräussern, die auch anderen zugänglich sind. Wir haben gelernt unsere Wahrnehmung der Welt in Information zu fassen. Ist Wissen also Information?

Tatsächlich lassen sich Informationen sammeln, kumulieren und in traditionellen oder modernen Speichern wie Bibliotheken oder Datenbanken ablegen. Sie lassen sich auch verwalten und abrufen, etwa wenn der Lehrer nach dem Jahr der St. Bartholomäus-Nacht fragt. Angenommen die Schülerin X antwortet beflissen «1572», was weiss sie dann? Sie zeigt, dass sie sich ein abstraktes Zahlenmuster eingeprägt hat, um auf den Reiz des Lehrers – die Frage – zu reagieren. Sie zeigt, dass sie weiss, wie sie sich verhalten muss, um in der Welt, die sie mit dem Lehrer teilt, möglichst gut und mit guten Noten über die Runden zu kommen. Sie verhält sich situativ angemessen, unabhängig davon, ob die St. Bartholomäus-Nacht für sie und ihr sonstiges Leben bedeutsam ist oder nicht. 

Die Schülerin X verhält sich klug. Aber das, was sie weiss, steckt gar nicht in der Information, die sie verarbeitet hat. Weder in der Frage des Lehrers noch in ihrer Antwort. Ihr Wissen steckt im Verhalten, das sie sich in ihrer Schulerfahrung angeeignet hat, nämlich dass es lohnend ist, richtige Antworten zum richtigen Zeitpunkt zu geben. Ist dieses Wissen wertvoll? Wenn man die Situation im Lichte einer möglichen Karriere betrachtet, vermutlich ja. Wenn man sie mit den vielen anderen Situationen assoziiert, in denen die Schülerin X aufgefordert war «richtige» Antworten zu geben, die für sie vielleicht jeglicher Bedeutsamkeit entbehrten, dann eher nein: Welche Verschwendung kostbarer Lebenszeit muss man angeödet denken. 

Doch interessant ist am Beispiel der Schülerin X: Das Wissen steckt nicht in der fraglichen Information selbst, sondern im Verhältnis, das sie zwischen der Information, dem Handlungskontext und ihren vergangenen Erfahrungen herstellen kann. Ohne diese Beziehung wäre ihre Information völlig belanglos. Wissen ist nicht etwas, was man besitzt, sondern etwas, was man handelnd, in einer Wechselwirkung mit der Umwelt hervorbringt. Wissen ist immer auch ein «Können». Indem wir uns die Welt erschliessen, stellen wir Wissensbezüge her. Lernen bezeichnet dabei die Bewegungen und Wendungen dieser Welt-Erfahrung. 

Lernen ist riskant. Es erfordert die Bereitschaft, bestehende Denk- und Handlungsmuster immer wieder anzupassen, erprobtes Wissen aufzugeben, wenn sich die Gegebenheiten in der Umwelt verändern. Nicht immer ist dabei klar, was das neu Erlernte bringen wird. So wissen wir heute noch nicht, welche Erfahrungen mit Fernunterricht sich als wertvoll und bleibend erweisen werden. Zu hoffen ist, dass der Einsatz von digitalen Medien bedeutsame Lernerfahrungen in die Welt setzt, die nicht nur richtige Antworten einfordern, sondern zum Fragen, Experimentieren und Erschliessen neuer Handlungskontexte einladen.


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